Zum dritten Mal lud die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik zu den Tagen der Poesie, dieses Mal nach Zwickau. Zum Thema „Spiel-Arten der Lyrik“ trafen sich Lyriker, Gedichtfilmer, Musiker und bildende Künstler, die den thematischen Säulen Lyrik und bildende Kunst, Lyrik und Musik sowie Lyrik und ihre darstellerische Umsetzung auf individuelle Weise Leben verliehen.
Doch vor Beginn der etwa zwanzig Kurzvorträge umfassenden Tagung bildeten zwei Lesungen am Donnerstag den Auftakt. In der Hochschulbibliothek Zwickau lasen der Vorsitzende der Lyrikgesellschaft und Initiator sowie Projektleiter der „Tage der Poesie in Sachsen“ seit 2009, Ralph Grüneberger, gemeinsam mit Siegmar Faust, Gabriele Frings und Maria Schüritz. Matthias Biskupek moderierte die Lesung.
Am Abend war einer der Gründerväter der konkreten Poesie, Eugen Gomringer, mit seinen Texten vertreten, die in ihrer vermeintlichen Schlichtheit Lyrik auf die konzentrierteste Essenz reduzieren und für viele zeitgenössische Lyriker wegweisend waren und sind. Der Neunzigjährige kokettierte ein wenig mit seinem Alter – immerhin sei er ein Jahr älter als die Queen, die gerade Deutschland besuche, und so winken wie sie könne er ebenfalls. Mit ihm lasen Monika Littau, Frank Norten, Franziska Röchter und die Verfasserin dieses Artikels aus ihren Gedichten, während das Vorstandsmitglied der Lyrikgesellschaft Stefan Kabisch durch den Abend führte. Monika Littau schlug mit ihren zu Kunstwerken entstandenen Texten bereits den Bogen zur thematischen Säule Lyrik und bildende Kunst. Franziska Röchter kommt aus der Poetry Slam-Szene und legt großen Wert auf Rhythmus, Frank Norten dagegen ist ein Grenzgänger zwischen Innen und Außen mit seinen nicht gereimten Texten. Herausragend waren die von Helen Ispirian gesungenen Gedichte Ralph Grünebergers, begleitet vom Komponisten Walter Thomas Heyn an der Gitarre. Lyrik – das Wort leitet sich von Lyra her, also gesungener Text – in ihrer ursprünglichen Form von Liedhaftigkeit zu erleben, ist deshalb so besonders, weil sich hier noch einmal die Metrik und Lautmalerei des Textes in viel deutlicherer Weise als beim Vorlesen oder gar stillen Lesen offenbaren. Lyrik grundsätzlich laut zu lesen ist zu empfehlen, um dem Zusammenspiel aus inhaltlichen und sprachlichen Figuren auf die Spur zu kommen. Eine weitere neue Ebene entsteht dadurch, dass nicht der Autor selbst, sondern in diesem Fall eine Sängerin den Text interpretierte. Ralph Grüneberger und Thomas Heyn sind überdies dabei, das Leipziger Liederbuch, seinerzeit von ihnen geschrieben, wieder an den Markt zu bringen.
Die Herausforderung, am Samstag mit etwa 20 Kurzvorträgen im Zeitplan zu bleiben, hat die Moderatorin Monika Hähnel scheinbar spielend bewältigt, indem sie freundlich aber bestimmt den Ablauf und zügigen Wechsel der Vortragenden dirigierte. Dank der vorhandenen Technik konnten die Wortbeiträge durch eingeblendete Bilder oder eingespielte Musiksequenzen ergänzt werden. Die Vorträge reichten vom Poetry Slam mit seiner Bedeutung und seinen Elementen über Schaffensfreundschaften zwischen Schreibenden und Malenden, gemeinsam Schaffenden über die Sparten Dichtung, Musik und Malerei hinweg bis zu der Vorführung von Gedichtfilmen in mehreren Sprachen. Die Publikation aller Beiträge wird ebenso wie eine Querschnitt-DVD der Poesietage in Kürze bei der Lyrikgesellschaft zu bestellen sein, was sowohl Teilnehmern der Tagung als Auffrischung des Gehörten und Gesehenen als auch allen Lyrikschaffenden, die nicht an den Tagen der Poesie in Sachsen teilnehmen konnten, sehr ans Herz zu legen ist. So eine Zusammenstellung in dieser Bandbreite und Thementiefe habe ich noch nicht erlebt und die Publikation nebst DVD – allein der Gedichtfilme wegen – gehört in jede fundiert aufgestellte Bibliothek.
In der historischen Ratsschulbibliothek führte der Herausgeber im quartus-Verlag, Jens-Fietje Dwars, durch einen besonderen Leseabend im Ambiente alten Holzmobiliars und Bücherschränken mit uralten Schätzen. Safiye Can, Peter Gosse, Manfred Jendryschik und André Schinkel spannten den Bogen von der slamgeprägten Dichtung Safiye Cans – sie zeigte auch Beispiele für ihre visuelle und konkrete Poesie – über die oft als barock bezeichnete, bis ins Kleinste durchkomponierte Schreibart Peter Gosses, der leisen, eindringlichen Texte Manfred Jendryschiks bis zu André Schinkels unverstellter, in berührender Weise ironisch-tragischer Poesie über Halle und die Liebe. Schinkels Vortrag hat mir einen neuen Zugang zu seinem Buch „Parlando“ ermöglicht. Zwischen dem Publikum und den Lesenden gab es, da alle an einem Tisch saßen, keine Distanz, auch nicht im übertragenen Sinne. Diese Lesung, bei der Manfred Jendryschik für mich, die ihn noch nicht kannte, eine große Entdeckung war, wirkt noch nach und einzelne Verse sind mir auch von den anderen Vortragenden in Erinnerung geblieben. Von Peter Gosse und André Schinkel, der auch in der Redaktion der Literaturzeitschrift Ort der Augen tätig ist, gibt es nicht nur inhaltlich, sondern auch gestalterisch wunderbare Bücher, angereichert mit Grafiken renommierter Zeichner, in der Edition Ornament des quartus-Verlags. In diesem Verlag hat auch Ralph Grüneberger seine Künstlergeschichten publiziert; dessen Neuerscheinung „Mick Jagger in Plagwitz“ mit Zeichnungen von Heinz Müller zwar nicht dort erschien, aber von mir begeistert zur Kenntnis genommen wurde. Eine besser lesbare und berührendere Art, die Chronik eines Ortes darzustellen, kann ich mir kaum ausmalen. Des „Erzpoeten“, wie Gosse ihn nennt, Lyrik ist mir in ihrer Sprachstruktur und Enjambementkomposition fast ebenso nah wie die Gosseschen gedrechselten Verse, die mich in meiner Arbeit sehr geprägt haben. Aus einer anderen Richtung prägte mich Eugen Gomringer mit „schweigen“ und „fehler im system“. Dass ich nun drei Poeten, die mir Inspiration, Wegweisung sind und lyrische Freude bereiten, auf einmal bei dieser Tagung treffen durfte, ist für mich ein großes Geschenk. Wir haben es hier mit sehr renommierten, mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Lyrikerin zu tun, die – für mich unbegreiflich – zumindest in Hamburg wenig oder gar nicht bekannt sind. Die hiesige „Szene“ täte gut daran, hier einmal über den Tellerrand zu blicken.
Doch zurück zu den restlichen Veranstaltungen der poetischen Tage, namentlich einem Poesie-Slam mit Franziska Holzheimer und Roman Israel und einem Song-Slam mit Rainer „Reno“ Rebscher, Nadine Maria Schmidt und Olaf Stelmecke, moderiert von Nils Matzka, sowie vier Liedermachern, die gegeneinander antraten. Diese beiden Events gab es im Alten Gasometer, dessen Ambiente mit Bühne und Beleuchtung perfekt dazu passte. Als Sieger des Song Slams freute sich der herausragende, Text und Harmonie beherrschende Daniel Seidel über eine vom Publikum gefüllte Tüte, die neben Geld auch Hustenbonbons, einen Gedichtband und ein Bier sowie allerlei Kleinkram enthielt.
Letztlich hat die Kaffeehauslesung von Kriszti Kiss und Dieter Treeck mich sehr beeindruckt, denn sie entführte bei Kaffee und Kuchen in die Atmosphäre der Zwanzigerjahre. Die Theaterfrau und der Dichter übersetzen ungarische Texte, Kristzi Kiss singt einige davon und beide tragen die Verse in so kurzweiliger und gelungener Weise vor, dass ich noch stundenlang hätte zuhören können. Auch das Förderstudio Literatur Zwickau war mit vier Autorinnen bei dieser Lesung vertreten und ich freute mich darüber, nun Monika Hähnel auch als Autorin kennengelernt zu haben.
Eine Tagung im Zeichen der Poesie ist für Lyrikschaffende etwas sehr kostbares, gilt Lyrik doch allzu häufig als Randerscheinung des Literaturbetriebs. Der gut gefüllte Saal des Robert Schumann-Hauses, in dem die Tagung stattfand, spricht für sich. Umso betrüblicher ist, dass die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen Förderung versagt hat. Es steht zu befürchten, dass es keine weiteren Tage der Poesie in Sachsen mehr geben kann, weil die Finanzierung ohne Förderung nicht auf die Beine zu stellen ist. Den Spendern, die das diesjährige Treffen ermöglicht haben und deren Namen hier nachzulesen sind, haben wir Lyriker viel zu verdanken: Dank an alle Spender/innen. Mindestens genauso großen Dank haben Ralph Grüneberger und sein Team der Lyrikgesellschaft verdient, die mit unendlichem Einsatz für diese Tagung gekämpft und organisiert haben.
„Das Gedicht hört seinem Leser zu“, sagte Hilde Domin – und wie wichtig ist es, dem Leser zuzuhören, der seine Phantasie entwickelt und das Gedicht durch seine Interpretation zu ganz individuellem (Er-)Leben erweckt! Doch wo Gedichte nicht mehr zum Vortrag kommen, wo die Entwicklung der Lyrik und nicht zuletzt lyrischen Verständigung der Poeten aus ganz verschiedenen Gegenden der Republik nicht mehr gefördert wird, kann diese wichtige Interaktion nicht mehr stattfinden. In einer Zeit des Bildungsverfalls, in der doch der Sprachförderung eine besondere Wertschätzung und Priorität zuteil werden sollte, verwundert eine solche Entscheidung der öffentlichen Hand doch ziemlich. Und so gern auch wir Dichter neben Tinte und Papier die neuen Medien zum Gestalten und Verständigen benutzen: Den Austausch von Angesicht zu Angesicht, in komprimierter Weise im Rahmen einer solch gelungenen und einmaligen Zusammenkunft wie den “Tagen der Poesie in Sachsen”, werden sie nie ersetzen.
Maren Schönfeld
Quelle: Die Auswärtige Presse vom 1.7.2015